Verkehrspolitik Tempolimit auf Autobahnen: Was taugen die Argumente?

Autor Thomas Günnel

Tempolimit auf der Autobahn: Viele Deutsche fühlen sich damit in ihrer Freiheit beschränkt und fürchten Schäden für die Industrie. Was ist dran, an den häufig angeführten Nachteilen eines Limits?

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Ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen: Eine knappe Mehrheit ist dafür.
Ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen: Eine knappe Mehrheit ist dafür.
(Bild: Thomas Günnel)

„ ... und wenn du dann nach Österreich fährst, in die Niederlande oder Frankreich; halt aus Deutschland raus, – das ist so entspannt auf der Straße“: Haben Sie diesen Satz auch schon gehört? Er fällt oft, wenn Freunde oder Kollegen von Urlaubsfahrten mit dem Auto berichten. Das Tempolimit in den Nachbarländern hat Vorteile, die in unserem eigenen Land manche Studie sehr schnell zu widerlegen scheint: „So schnell fahren wir hier doch gar nicht.“

Höhere sensorische Last führt zu schnellerer Ermüdung.

Don DeVol, Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie

Aktuell ist das Thema wieder ein Hebel der Kanzlerkandidaten, es polarisiert zu gut. Was würde es aber faktisch für die Automobilhersteller bedeuten, wenn die letzte große öffentliche Bedarfsrennstrecke geschlossen würde? Zerstört das Tempolimit die Industrie, wie oft behauptet wird?

Benachteiligt ein Limit die Industrie?

Am weitesten beim Thema „freiwilliges Tempolimit“ ist wohl Volvo. Alle seit dem Jahr 2020 neu zugelassenen Fahrzeuge sind elektronisch begrenzt auf 180 km/h. Hat das konstruktive Auswirkungen? „Nein“, sagt ein Unternehmenssprecher. „Es war von Beginn an klar, dass sich an den Fahrzeugen nichts ändern wird – sie fahren nur nicht schneller als 180.“

Das heißt: Die Wertschöpfung der Fahrzeuge bleibt gleich. „Die Autos werden je nach Komponenten auf die maximale Last ausgelegt“, beschreibt der Sprecher weiter. „Die maximale Last entsteht aber nicht auf der Autobahn bei 180 oder 200, sondern zum Beispiel bei der Fahrt mit dem Wohnanhänger über eine Passstraße. Das ist Höchstlast für die Bremsen.“ Das Beispiel zeigt auch, wieso ein generelles Tempolimit nichts an der notwendigen Motorleistung ändern würde: So wie die Bremsen bergab muss der Antrieb bergauf mit dem Gespann fertigwerden.

Knappe Mehrheit für ein Tempolimit

Die knappe Mehrheit der Deutschen ist für ein Tempolimit auf Autobahnen. Das belegt unter anderem die repräsentative Befragung „Verkehrsklima 2020“ der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Zusammen mit dem Institut Omnitrend befragte die UDV im Jahr 2019 zwischen September und Oktober 2.080 Personen ab 18 Jahren, Mitte 2020 nochmals 1.300 von diesen Personen – zur wahrgenommenen Verkehrssicherheit und dem Verkehrsverhalten. Außerdem zu möglichen sinnvollen Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit. Für ein Tempolimit von 130 km/h stimmten dabei 53 Prozent der Befragten.

Das Limit würde die Belastung beim Fahren reduzieren. „Der mentale Aufwand beim Fahren mit hohen Geschwindigkeiten, also ohne ein Tempolimit, ist höher, weil ich als Fahrer zum Beispiel wegen der großen Geschwindigkeitsdifferenzen mehr auf die anderen Fahrzeuge und Schilder achten muss“, sagt Don DeVol, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie. Der mentale Aufwand spricht auch gegen das Argument, dass schnelles Fahren weniger ermüdet als langsameres Fahren.

„Beim schnellen Fahren ist zwar die Aktivierung höher; die gesteigerte Reizanflutung sorgt dafür, dass dieses Empfinden direkt einsetzt und die Konzentrationsleistung erhöht ist. Aber das funktioniert nur kurzzeitig und ist abhängig von individuellen Faktoren und der Tagesform des Fahrers“, erklärt DeVol. „Wenn wir dieselbe Person bei unterschiedlichen gefahrenen Geschwindigkeiten betrachten, führt die höhere sensorische Last zu schnellerer Ermüdung. Jeder Mensch verfügt aber nur über eine gewisse Kapazität an Aufmerksamkeit und Konzentration. Wenn Sie müde sind, sind Sie müde.“

„Mit E-Fahrzeugen wird ohnehin langsamer gefahren“

Dass sich der Verkehr von selbst verlangsamt ist denkbar, aber ein Zukunftsszenario. VW-Chef Herbert Diess hatte die Notwendigkeit eines Tempolimits infrage gestellt; „weil Elektrofahrzeuge bei hohen Geschwindigkeiten schneller an Reichweite verlieren“ würde mit ihnen ohnehin langsamer gefahren.

Das Argument ist schlüssig, hat aber einen Fehler: Es trifft nur auf rein elektrisch angetriebene Fahrzeuge zu, die in mindestens den nächsten fünf bis zehn Jahren in der deutlichen Minderheit auf deutschen Straßen sein werden. Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren bleiben außen vor. Die aber emittieren CO2: umso mehr, je schneller sie fahren.

Auftritt der nächsten Studien: „So viele Emissionen spart ein Tempolimit nicht.“ Das Umweltbundesamt hat Ende 2020 entsprechende Zahlen veröffentlicht: basierend auf der Inlandsfahrleistung von Pkw und leichten Nutzfahrzeugen im Jahr 2018 und auf einem angenommenen Tempolimit von 120 km/h. Rund 2,9 Millionen Tonnen CO2 ließen sich so vermeiden. Bei 130 km/h wären es geschätzt noch 2,2 Millionen Tonnen. Ist das „viel“?

Es ist etwas. Und: Es kostet verglichen mit anderen Maßnahmen für weniger Emissionen fast nichts. Im Gegenteil: Stau kostet Geld. Auf Autobahnen entsteht er unter anderem dann, wenn wegen Geschwindigkeitsdifferenzen gebremst werden muss und sich die Bremsvorgänge in der Reihe der Autos nach hinten summieren; bis zum Stillstand. Außerdem: Die geringere Abnutzung der Straßen und Brücken, den geringeren Reifen- und Bremsenabrieb, den spezifischen Ölverbrauch der Motoren oder eine unter Umständen längere Motoröl-Lebensdauer hat das Umweltbundesamt nicht berücksichtigt.

Beschränkungen individuell regeln

Ein anderes Argument gegen ein generelles Limit ist das aktive Steuern der Geschwindigkeitsbeschränkung je nach Verkehrslage. Das deutsche Autobahnnetz umfasste im Jahr 2020 laut Bundesverkehrsministerium rund 13.000 Kilometer. „Auf Bundesautobahnen befinden sich auf einer Streckenlänge von rund 3.100 Kilometern Richtungsfahrbahn Verkehrsleitsysteme mit variabler Geschwindigkeitsanzeige, sogenannte Streckenbeeinflussungsanlagen“, antwortete eine Sprecherin des Ministeriums auf Anfrage.

Rund 10.000 Kilometer Richtungsfahrbahn lassen sich bislang nicht variabel steuern; die entsprechenden Anlagen müssten installiert werden. Das dauert. Und: „Aus verkehrspsychologischer Sicht sind diese Maßnahmen Plan B“, sagt DeVol, „schnell wechselnde Geschwindigkeitsbegrenzungen sind anstrengend, es entspannt grundsätzlich, wenn ich weiß, dass ich zum Beispiel nicht über 130 km/h fahren darf.“

Einen positiven Effekt eines festen Limits erwartet Don DeVol auf das allgemeine Verkehrsklima. In der Befragung des UDV hielten 88 beziehungsweise 87 Prozent zu geringen Sicherheitsabstand und aggressives Verhalten für sehr häufige Faktoren, die ursächlich sind für Verkehrsunfälle. Beide Ausprägungen riskanten Fahrverhaltens dürften sich zwar nicht erledigen, doch deutlich weniger häufig auftreten, wenn bei 130 per Gesetz „Schluss“ ist.

Schnell und sicher mit Assistenzsystemen?

Zurück zur Technik: Assistenzsysteme. Sie können die potenzielle Gefahr der Geschwindigkeitsdifferenzen abschwächen, mit entsprechendem technischen Aufwand: „Bei höheren Geschwindigkeiten, und damit zwangsläufig verbunden höheren Differenzgeschwindigkeiten zwischen Verkehrsteilnehmern, steigen grundsätzlich die Anforderungen an die Reichweite der jeweiligen Sensoren – seien es Radar, Kamera oder auch Lidar“, beschreibt Frank Petznick, Leiter der Geschäftseinheit Fahrerassistenzsysteme bei Continental. Technisch ist das machbar, es könnten jedoch weitere Sensoren am Fahrzeug notwendig sein.

Hier kann sich ein Tempolimit auch wirtschaftlich auswirken: „Bei der Auslegung von automatisiert fahrenden Fahrzeugen und der Durchdringung im Markt ist es von Vorteil, wenn die Anforderungen an diese Systeme über Ländergrenzen hinweg nicht allzu stark differieren – hier beispielsweise die zulässige Höchstgeschwindigkeit. Für einen flüssigen Verkehrsablauf ist eine Reduktion der möglichen Differenzgeschwindigkeiten relevant“, sagt Petznick. „Auf Autobahnen ist eine Geschwindigkeit von 130 km/h für ein flüssiges Fahren mit Autobahnpiloten sinnvoll.“

Woher kommt die 130?

Woher kommt die Richtgeschwindigkeit 130 eigentlich? Eine Sprecherin des Bundesverkehrsministeriums erklärt: „Vor dem Erlass der Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung im November 1978 führte die Bundesanstalt für Straßenwesen einen mehrjährigen Großversuch auf deutschen Autobahnen durch, im Rahmen dessen man sich an gefahrenen Geschwindigkeiten von 130 km/h orientierte. Die gewonnenen Erkenntnisse dienten als Grundlage für den Inhalt der Verordnung.“

Das ist natürlich lange her; das Verkehrsaufkommen hat sich deutlich verändert: 1980 waren in Deutschland laut Kraftfahrt-Bundesamt rund 23 Millionen Pkw zugelassen, Anfang 2021 waren es etwa 48 Millionen. Ist das nicht schon ein Argument für einen ausgewogener rollenden Verkehr?

Und nun: Pro oder Contra Tempolimit? Wenn Sie sich trotz aller Argumente und Studien nicht sicher sind, ob ein Tempolimit sinnvoll sein und sich vielleicht auch auf die eigene Fahrweise positiv auswirken kann: Fahren Sie doch mal nach Österreich, in die Niederlande oder nach Frankreich.

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