Pedelec-Boom Auto- oder Fahrradhandel: Wer ist mit E-Bikes erfolgreicher?
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Der Autohandel weiß, dass die Mobilitätswende nicht allein durch das Auto beantwortet werden kann und drängt zunehmend ins E-Bike-Geschäft. Der Fahrradhandel bezweifelt, dass die Rechnung für die Autohäuser aufgehen wird.

An Zweiräder war noch gar nicht zu denken, als der Volkswagen- und Audi-Partner Kuhn+Witte das in 2020 errichtete Audi-Terminal in Seevetal-Fleestedt in der Nordheide eröffnete. Das sieht seit März 2022 anders aus. Geschäftsführer Oliver Bohn erklärt: „Die Fahrzeuge, die früher hier standen, sind umgezogen. Wir möchten unser Unternehmen breit und zukunftssicher aufstellen und bieten auf der frei gewordenen Ausstellungsfläche von 600 Quadratmetern im ehemaligen Nutzfahrzeugbetrieb Roller und Pedelecs, also sogenannte E-Bikes, an.“
Das Unternehmen mit seinen 355 Mitarbeitern hat Autos und Zweiräder am Hauptsitz in Jesteburg sowie in Buchholz und Fleestedt im Angebot. Im neuen Zweiradcenter wurden im letzten Jahr unter der Submarke Mobile Freizeit rund 250 Fahrräder verkauft. In diesem Jahr sollen es 550 E-Bikes werden. „Unsere Aufgabe besteht vor allem darin, das Bewusstsein bei unseren Mitarbeitern zu schaffen, dass sich das Autogeschäft, der Service und die Ertragslage künftig komplett ändern werden. Wir müssen uns neu aufstellen, um zukunftsfähig zu sein“, erklärt Bohn.
Einige Jahre zuvor - 2016 - beschloss der Triathlet Kai Nüchter seine Karriere als General Manager eines Konzerns an den Nagel zu hängen und seiner Berufung zu folgen. Er gründete in seiner osthessischen Heimat einen Mega-Bikestore, die VeloCulTour GmbH. Dieser ist mittlerweile an zehn Standorten in den Kleinstädten Neuhof, Hünfeld, Lauterbach, Schlüchtern, Altenstadt bei Frankfurt sowie in Düsseldorf, Großwallstadt, Bad Salzungen und in Eugendorf und Lamprechtshausen in der Nähe von Salzburg zu finden. Nüchters Kernmannschaft bilden 28 Angestellte, die während der Fahrradsaison temporär auf 40 Köpfe anwächst. Neben Rennrädern werden bei ihm fast ausschließlich E-Bikes nachgefragt, die er aktuell von 12 Herstellern bezieht. Er plant jedoch, sein Markenportfolio mittelfristig auf die Kernmarken zu reduzieren.
Der Geschäftsführer erläutert die Gesamtsituation: „Die Mobilitätswende bewirkt eine Infrastruktur für E-Bikes. Hier findet sukzessive ein Umdenken statt und jüngere Menschen fahren eher mit dem Zug und dem Fahrrad und haben kein eigenes Auto mehr. Es besteht für sie die Möglichkeit, durch das immer bessere Netz an Mobilitätsstationen, unproblematisch an ein Auto zu kommen.“ Nüchter plant daher, seinen Kunden als Teil seines Mobilitätsangebots, auch hauseigene E-Autos zur Verfügung zu stellen.
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Fahrrad
Das sind die E-Bike-Trends 2023
Neues Team für das E-Bike-Business
Die Autohausgruppe Kuhn+Witte stellte ihr Team im Fahrradbereich komplett neu zusammen. Es besteht aus fünf Mitarbeitern und ist vom Automobilbereich vollständig abgekoppelt. „Zweiradmechatroniker sind wie Gold. Wir haben unser Personal nirgendwo abgeworben, sondern in unserem Bekanntenbereich rekrutiert und bilden selber aus“, sagt Bohn. Zu seiner Mannschaft gehört nicht nur ein erfahrener Zweiradmechatroniker-Meister, sondern auch ein ehemaliger Bundesliga-Radrennfahrer, der zuletzt als Physiotherapeut beschäftigt war. Stolz erklärt er: „Bei uns werden die Fahrräder direkt vom Radprofi und Physiotherapeuten eingestellt.“
Neben der Mitarbeitersuche war für Bohn auch die Akquisition geeigneter Hersteller eine Herausforderung, die er zunächst unterschätzt hatte. Die ersten Gespräche führte er mit der Marke Kalkhoff, bei der sein Vertriebskonzept gut ankam. Er erklärt: „Wir verfügen über 65.000 echte Kunden, mit denen wir systematische Kundenbindungsmaßnahmen durchführen können. Selbst, wenn der aktuelle Markt Einbrüche erleidet, können wir Fahrräder in einer guten Stückzahl verkaufen.“ Er ist überzeugt, dass sich beispielsweise über das Großkundengeschäft problemlos Fahrrad-Leasings realisieren lassen. Über Empfehlungen von Kalkhoff konnte Bohn weitere Fahrradlieferanten gewinnen. Mittlerweile bekommt der Autohändler, der aktuell sieben Marken bereithält, regelmäßig Anfragen von Herstellern, die, wie er ausdrücklich betont, zum Markenportfolio der Autohausgruppe passen müssen.
Reiner Kolberg, Leiter der Branchenkommunikation und Pressearbeit des ZIV Zweirad-Industrie-Verband e.V., meldet Bedenken an, wenn es um E-Bikes aus dem Autohaus geht. Er sagt: „Wenn ein Kunde im Autohandel ein hochwertiges Fahrrad gekauft hat, hier aber möglicherweise weder eine fundierte Beratung noch sinnvolles Zubehör angeboten bekam, um sein Fahrrad zu einem wirklich guten Produkt zu machen, wird er unzufrieden sein. Das schlägt nicht nur auf den Autohändler, sondern letztlich auch auf die Hersteller zurück.“ Ebenso wie Nüchter vermutet er, dass sich daher etablierte Hersteller gegenüber dem Autohandel eher skeptisch verhalten werden.
Umfangreiche Kundenberatung gewohnt
Neben Wartung und Reparatur sowie dem Angebot von Ersatzteilen und Zubehör bietet die Autohausgruppe seinen Fahrradkunden auch einen kostenlosen Hol- und Bringservice an. Zudem stellt das Unternehmen Urlaubern Leihräder zur Verfügung. Nüchter hält für seine Kunden Fahrradreisen, geführte Rad-Touren, Events und auch ein ganzheitliches Gesundheitsmanagement bereit und führt Gesundheitstage durch. Er und sein Team besuchen außerdem Unternehmen vor Ort und lassen Räder testen, aussuchen und nehmen auch den Service vor.
Im Bikestore VeloCulTour werden durchschnittlich anderthalb Stunden Beratungszeit für Kunden benötigt, die auf der Suche nach einem passenden Bike sind. Bei Kuhn+Witte werden Fahrrad-Kunden zwischen einer halben Stunde und anderthalb Stunden beraten, so Bohn. Hierin ist jeweils ebenfalls die Zeit für die Körperanalyse des Kunden, wie Vermessung und Sitzhaltung, enthalten.
„Im Autohandel sind wir höhere Beratungszeiten gewohnt, die sich auch mal über mehrere Tage hinziehen können“, sagt er und ergänzt, dass es in seinem Unternehmen für Autos und Fahrräder eigene Auslieferungsbereiche gibt: „Das Bike wird bei Abholung schön präsentiert. Das hat eine Qualität, die uns vom normalen Fahrradhandel unterscheidet.“
Herausforderung Saisongeschäft
Bohn erklärt, dass sich der November als bisher stärkster Monat herausstellte und sogar den August toppte. Er sagt: „Das Fahrradgeschäft ist zwar ein Saisongeschäft, aber es ist gut steuerbar. Unser Dialogteam bietet den Autokunden, die Fahrräder besitzen, an, ihre Autos gemeinsam mit ihren Fahrrädern zur Inspektion zu geben, um sie frühjahrsfit und winterfest zu machen.“
Die Idee, feste Wartungstermine für Autos mit einem Inspektionsservice für Räder zu kombinieren, hält Nüchter für kaum realisierbar, da Fahrräder in der Regel nur dann in der Werkstatt landen, wenn sie defekt sind. Eine viel wichtigere Aufgabe sieht er dagegen in der Optimierung des Service und erklärt: „Im Sommer bräuchte ich mehr Techniker und im Winter habe ich dann zu viele, weil weniger Reparaturen anliegen.“ Die schwankenden Personalkosten lassen sich nur durch eine Mix-Kalkulation kompensieren und er betont: „Das Geld muss in den acht bis zehn Monaten der Saison verdient werden. Wir können uns daher in der Saison auch keine großzügigen Nachlässe erlauben.“
Leasing und Finanzierung
Der Geschäftsführer bietet ein hauseigenes Bike-Leasing über seine neue Leasing-Gesellschaft Velolease an. Er sagt: „Wir kümmern uns um alles. Die Unternehmen haben überhaupt keinen Aufwand. Die Überlassung eines Rads ist ein neutraler durchlaufender Posten. Nach drei Jahren kann dann der Mitarbeiter das Rad übernehmen.“ Nüchter greift bei Bedarf auch auf weitere Leasinggesellschaften und Finanzierungsbanken zu und bietet eine eigene Privat-Finanzierung an. Im Rahmen eines Mietkaufs kann das Fahrrad über drei Jahre gemietet werden und geht dann in das Eigentum des Mieters über.
Bei Kuhn+Witte kommen Autofinanzierungsbanken, wie die Volkswagen Bank GmbH, die ebenfalls E-Bikes finanziert, zum Einsatz. Volkswagen bietet mit „FINANCE A BIKE“ ein eigenes Kreditprodukt an, worüber das Unternehmen Räder verleast und finanziert.
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Zweiradmobilität
Urwahn-Chef: „Der Autohandel berät anders und besser“
Wer macht das Geschäft?
Bohn prognostiziert, dass der Fahrrad-Boom in einigen Jahren vorbei sein wird und sagt: „Bisher mussten sich die Fahrradläden nicht um Kunden bemühen, aber spätestens dann brauchen die Hersteller gute Händler, die Vertrieb verstehen.“ Den Vermarktungsweg über die Vertriebsstrukturen des Autohandels nutzt beispielsweise gezielt der Fahrradhersteller Urwahn. Gründer Sebastian Meinecke vertritt die Ansicht, dass der Autohandel selektiver als der Fahrradhandel berät und Kunden nicht mit einem konfusen Überangebot an vergleichbaren Produkten überfordert, wie er es oft im Fahrradhandel beobachten kann.
Aus Nüchters Sicht bringt der Autohandel zu wenig Marktverständnis mit, um langfristig im Fahrradgeschäft erfolgreich agieren zu können. Im Autobereich spielt der Service den höchsten Umsatz ein, während der Fahrradhandel von vergleichsweise hohen Verkaufsmargen profitiert, was auch notwendig ist, um das Nachsaisongeschäft meistern zu können, so Nüchter. Er rät dem Fahrradhandel, besonderes Augenmerk auf Beratung, Service, Wartung und Zubehör zu legen und sagt: „Der Markt ist groß genug für alle. Die Kunden sollen sich gut aufgehoben fühlen und werden den Fahrradhandel den Autohäusern vorziehen, sofern sich der Fahrradhandel innovativ zeigt.“
Aller Einwürfe zum Trotz ist für Bohn und Nüchter klar: Mobilität wird sich weiterhin verändern und das E-Bike spielt eine der Hauptrollen. Die unterschiedlichen Schwerpunkte und Perspektiven beider Branchen könnten die Findung innovativer Lösungen wertvoll befeuern. Kolberg vom ZIV resümiert: „Es steht unter Fachleuten außer Frage, dass wir eine neue Mobilität brauchen, die nicht mehr in erster Linie auf das Auto abhebt. Neben einer Antriebswende brauchen wir auch eine Mobilitätswende und da hat das E-Bike heute einen ganz anderen Stellenwert. Das zu sehen ist auch für den Autohandel wichtig, denn wenn er auf andere Mobilitätsformen und Kooperationen setzt, kann sich daraus eine Win-win-Situation für alle ergeben.“
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