Wie sich große Hybridluftschiffe erfolgreich testen lassen
Ein gigantisches Luftschiff wie der Airlander 10 erfordert sorgfältige Tests aller Steuerungs- und Kommunikationssysteme. Wie sich diese Herausforderungen meistern lassen, lesen Sie in diesem Beitrag.
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Der Airlander 10 ist nicht einfach nur das größte Fluggerät der Welt, sondern verkörpert gleichzeitig den Prototyp eines neuartigen Hybrid-Konzepts, das die „Leichter-als-Luft-Technologie“ mit den besten Eigenschaften eines Luftschiffs, Flugzeugs und Hubschraubers in einem System vereint. Bei einem Pionier-Projekt dieser Kategorie spielen sorgfältige Tests der Steuerungs- und Kommunikationssysteme vor und während der Testflüge eine wichtige Rolle. In dem Test- und Simulationssystem CANoe sowie der Test-Hardware VT System haben die Entwickler die optimale Werkzeug-Kombination gefunden, um jede Herausforderung vom Hardware-in-the-Loop-(HiL-)Test einzelner Steuergeräte bis zu umfangreichen Überwachungsaufgaben und der Verifizierung gesamter Teilnetze zu meistern.
Von einem Fluggerät der nächsten Generation erwartet man in erster Linie Kosteneffizienz und geringen Treibstoffverbrauch. Wünschenswert sind weiterhin eine möglichst große Reichweite und Flugdauer, hohe Tragkraft für Lasten sowie Flexibilität hinsichtlich der Voraussetzungen zum Starten und Landen. In diesen und weiteren Disziplinen nimmt der Airlander 10 quasi eine Vorreiterrolle ein.
Er hat eine vorbildliche CO2-Bilanz und geringe Geräuschemissionen, kann mit Besatzung bis zu fünf Tage in der Luft bleiben und an Orten mit Gras, Wüste, Eis, Schnee und Wasser senkrecht starten und landen. Damit ist das Hybridluftschiff in der Lage, ohne Flughafeninfrastruktur Lasten von zehn Tonnen Gewicht und 60 Passagiere mit einer Geschwindigkeit von circa 150 km/h von Punkt zu Punkt zu befördern. Die Einsatzbereiche des Airlanders reichen von Transport, Anlieferung und Kranfunktion für schwere Lasten, wie Windrad-Komponenten, Öl-, Gas- und Pipeline-Ausrüstungen, an schwer zugänglichen Orten über touristische Aktivitäten, wie Rundflüge und Luxus-Safaris, bis zu Anwendungen in der Telekommunikation und Langzeitmissionen bei Überwachungsaufgaben.
Mix aus Luftschiff, Flugzeug und Hubschrauber
Die Firma Hybrid Air Vehicles (HAV) in Großbritannien ist Eigentümer, Entwickler und Hersteller des Airlanders 10 – dem weltweit größten Fluggerät. HAV hat über 40 Jahre Erfahrung mit der „Leichter-als-Luft Technologie“ und ist die einzige Firma weltweit, die ein Full-Size-Hybrid-Fluggerät, mit aktuell 21 Patenten entwickelt und gebaut hat. Im Jahr 2010 gewannen sie einen Vertrag mit der US-Regierung, die 300 Mio. € in das Projekt LEMV (Long Endurance Multi-Intelligence Vehicle) investierte. Dies führte zu einem erfolgreichen 90-minütigen Testflug. Nachdem das amerikanische Militär 2012 aus dem Projekt LEMV ausstieg, erwarb HAV das Fluggerät und transportierte den Airlander zurück nach Bedfordshire. Dort wurde es weiterentwickelt und für den Erstflug vorbereitet und getestet, der im August 2016 stattgefunden hat.
HAV gilt heute als führender Hersteller von hybriden Luftfahrzeugen mit „Leichter-als-Luft-Technologie“, wobei sich der Airlander durch eine Reihe von Eigenschaften auszeichnet. Die Besonderheit ist der Mix aus Luftschiff, Flugzeug und Hubschrauber: Die Heliumfüllung trägt mit ihrem statischen Auftrieb nur zu rund 60% zum notwendigen Auftrieb bei, während der Rest von der aerodynamischen Rumpfform sowie den Antriebsaggregaten kommt.
Die vier Rotorantriebe mit jeweils einem 4-Liter-V8-Turbolader-Diesel-Motor mit 350 PS Leistung sind schwenkbar und können bei Bedarf durch gerichteten Schub ±25% der Auf- oder Abtriebskraft generieren. Durch die Wölbung des Rumpfes schließlich, ähnlich der Tragfläche eines herkömmlichen Flugzeugs, entsteht bei Vorwärtsbewegung des Airlanders ein Auftrieb von bis zu 40%. Die Außenhaut ist aus einem extrem starren und zugfesten Flüssigkristallpolymer-Faserwerkstoff gefertigt. Zum Aufrechterhalten ihrer Form genügt der geringe Überdruck des Heliums. Insgesamt erlaubt dieses Konzept verglichen mit einem Hubschrauber einen zehnmal günstigeren Betrieb.
Die drei wichtigsten Aktionen: Testen, testen und testen
Zu den wichtigsten Voraussetzungen vor dem Testflug im August 2016 gehörten umfangreiche Tests der Steuerungs- und Kommunikationssysteme wie das „Flight Control Network“, den „Power Distribution Controller“ sowie das „Flight Test Equipment“. Das Flight Control Network dient unmittelbar zum Steuern des aerodynamischen Verhaltens des Hybridluftschiffs und transportiert die Befehle vom Cockpit beziehungsweise der Flugsteuerung zu den elektrisch verstellbaren Aktuatoren.
Den verantwortlichen Mitarbeitern war durchaus bewusst, dass die anstehenden Tests kein leichtes Unterfangen sein würden. Es gibt keine erprobten Konzepte oder Vorlagen, auf die man zurückgreifen kann, vieles muss von Grund auf neu entwickelt werden und die Aufbauten im Prototypenstatus haben vielfach noch experimentellen Charakter. Da sich die Bordelektronik noch in vielen Details verändern kann bis die optimale Lösung für die Serienversion gefunden ist, bedarf es eines Testsystems, das sich flexibel auf die veränderlichen Randbedingungen einstellen und mit den Herausforderungen wachsen kann.
Das gesuchte Testsystem sollte nicht auf einen speziellen Einsatzzweck ausgerichtet sein, sondern sich als allgemeines Werkzeug für die vielfältigen Aufgaben rund um die Elektrik/Elektronik-Entwicklungen der Airlander eignen. Hybrid Air Vehicles wurde schließlich auf die Software „CANoe“ (CAN open environment) sowie das VT System der Firma Vector Informatik, mit ihrem Hauptsitz in Stuttgart, aufmerksam. Vector ist bekannt für seine professionellen und offenen Entwicklungsplattformen mit Tools, Software-Komponenten und Dienstleistungen zum Erstellen von Embedded-Systemen. Diese bieten Ingenieuren den entscheidenden Vorteil, um anspruchsvolle und hoch komplexe Aufgaben so einfach wie möglich zu bearbeiten. Branchen wie die Automobilindustrie, die Luftfahrttechnik, Nutzfahrzeugtechnik, Bahnen, Schiffsausrüstungen und zahlreiche weitere Automatisierungsprojekte zählen weltweit zu den Anwendern der Vector Systeme.
Fortschrittliches Test- und Simulationssystem
Als zentrales Werkzeug zum Analysieren, Testen und Simulieren von Netzwerken und einzelnen LRUs dient die Software CANoe. Das System unterstützt Ingenieure während des gesamten Entwicklungsprozesses. Seine vielseitigen Funktionen ermöglichen optimale Fehlerbehebung, Kommunikationsanalysen, Stimulationen der Bus-Kommunikation sowie manuelle und automatisierte Tests. Außerdem bietet es universellen Support für die in der Luft- und Raumfahrtindustrie verwendeten Bussysteme, wie AFDX, ARINC 429 und CAN.
Um LRUs (line-replaceble unit) vollständig zu testen ist es nicht nur notwendig, die Kommunikationsnetzwerke sondern auch I/O-Schnittstellen mit dem Testsystem zu verbinden. Diese Aufgabe übernimmt das Vector VT System (Bild 1). Es vereinfacht die Einrichtung von Prüfständen und HIL-Testsystemen, da es alle Schaltungsteile für die Anbindung von I/O-Kanälen enthält.
Die Ingenieure von Hybrid Air Vehicles haben sich dazu entschlossen, alle Testszenarien mit Hilfe der Vector-Systeme zu erledigen. CANoe und das VT System bieten alle Voraussetzungen, um die derzeitigen Kommunikationssysteme des Airlander 10 wie RS422 und RS485 entwickeln und testen zu können. Ebenso unterstützen sie mögliche Avionik-Upgrades, die auf dem Bussystem CAN basieren. Falls HAV in der nächsten Hybridluftschiffgeneration beziehungsweise in der Serienfertigung auf ein Bussystem wie ARINC 825 umsteigen würde, sind bei den CANoe-Schnittstellen lediglich die Physical Layer auszutauschen, ansonsten sind keine Änderungen notwendig.
Um einen definierten Ausgangspunkt zu erhalten, hat HAV im ersten Schritt die Netzwerkkommunikation vollständig in CANoe abgebildet, so dass diese komplett von der Test-Software simulierbar ist. Zusammen mit dem VT System lässt sich für jedes Steuergerät (LRU) eine realitätsnahe HiL-Umgebung erzeugen und die Geräte einzeln testen. Unter anderem haben die Entwickler dafür mit MATLAB/Simulink ein aerodynamisches Modell der Airlander 10 entworfen und in CANoe eingebunden.
Außerdem wurde mit der Software ein virtuelles Abbild des Airlander-Cockpits generiert, um das MATLAB/Simulink Modell in CANoe testen und kontrollieren zu können. Dies ist Teil des „Vector Airlander Flight Trainer“ (Bild 2). CANoe bietet die Möglichkeit, am Bildschirm benutzerdefinierte Panels mit grafischen Steuerelementen (Controls) wie Schaltern, Schiebereglern und Zeigerinstrumenten (Bild 3) zusammenzustellen. Nachdem ein Steuerelement mit dem gewünschten Signal oder einer Variable verknüpft ist, lässt sich der entsprechende Wert anschließend so in Echtzeit verändern oder anzeigen.
100%-Testabdeckung durch Testautomatisierung
HAV stellt mit den Schalt- und Bedienelementen des virtuellen Cockpits die typischen Handlungen eines Piloten nach und stimuliert so den Prüfling. Gleichzeitig können die Mitarbeiter beobachten, wie das Steuergerät in den verschiedenen Situationen reagiert. Der große Vorteil solcher Simulationen besteht darin, dass sich Teilnetze während der Entwicklung bereits in Betrieb nehmen und testen lassen, auch wenn noch nicht alle Komponenten zur Verfügung stehen. Die fehlenden Module lassen sich simulieren und im Entwicklungsprozess Schritt für Schritt durch reale Einheiten ersetzen, bis das Gesamtsystem fertiggestellt ist (Bild 4). HAV konnte so das Flight Control Network komplett am Boden testen und virtuell in Betrieb nehmen.
Eine wichtige Aufgabe während des Flugbetriebs kommt dem Power Distribution Controller zu, der für die Energieverteilung verantwortlich ist und dafür sorgt, dass jederzeit ausreichende Energiereserven zur Verfügung stehen. Das System überwacht alle zur Energieversorgung beitragenden Komponenten wie Batterien und deren Ladezustand, Generatoren, Notstromsystem, Dieseltreibstoffvorrat und vieles mehr. Bei Problemen und in Notfallsituationen, etwa bei einem Ausfall des Generators, muss der Power Distribution Controller blitzschnell die richtigen Maßnahmen einleiten und zum Beispiel auf Notbetrieb umschalten. Um die sichere Funktionalität in allen denkbaren Situationen nachzuweisen, sind insgesamt mehrere hundert Testfälle zu durchlaufen.
Mit Hilfe von CANoe, dem VT System und vTESTstudio war HAV in der Lage, nicht nur die Testkonfigurationen zügig zu erstellen, sondern mit automatisierten Testabläufen auch eine hundertprozentige Testabdeckung zu erreichen. Das Software-Werkzeug vTESTstudio stellt verschiedene Methoden zum komfortablen Generieren automatischer Testkonfigurationen bereit. Die Testabläufe lassen sich entweder in tabellarischer Form definieren, in der Skriptsprache CAPL oder C# programmieren oder in einer grafischen Notation modellieren. Man kann Excel-Tabellen importieren und Ein-/Ausgangsgrößen einfach verknüpfen.
Sorgfältige Tests der Testausrüstung
Die letzte große Herausforderung für die Vector-Systeme bestand darin, das Flight Test Equipment vor dem Einbau in das Hybridluftschiff sorgfältig unter die Lupe zu nehmen. Das Test-Equipment überwacht während der Testflüge die Bordelektronik und zeichnet wichtige Ereignisse auf. Vor dem Einbau und der Inbetriebnahme des Flight Test Equipments muss der Nachweis erbracht werden, dass das System selbst korrekt und zuverlässig arbeitet. Auch hier kamen als Grundlage zum Verifizieren des Flight Test Equipments wieder die Netzwerk- und Hardware-Simulationen der Vector-Werkzeuge zum Einsatz. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Fähigkeit von CANoe, gezielt Fehler in die Kommunikation einzuschleusen und zum Beispiel Botschaften zu blockieren, zu verfälschen oder Prüfsummen zu manipulieren. Vergleichbar dazu lassen sich auf der Hardware-Seite mit dem VT System Leitungsbrüche und Kurzschlüsse in den I/O-Leitungen simulieren. Diese Fehler müssen sich anschließend in den Logging-Daten des Flight Test Equipments wiederfinden.
Deutlich einfachere Entwicklungs- und Testprozesse
Die Vector Tools CANoe und VT System haben die Entwicklungs- und Testprozesse von Steuergeräten und Kommunikationsnetzen für den Airlander 10 nachhaltig vereinfacht. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Möglichkeit, Hard- und Software zu simulieren und zunächst modellbasiert umzusetzen – und das schon in den Projektphasen, in denen noch keine realen Komponenten zur Verfügung standen. Die Entwickler sind nach eigener Aussage noch nie an die Grenzen der Werkzeuge gestoßen und konnten jede noch so „verrückte Idee“ umsetzen.
Der Leiter der Testinstallation freut sich, dass er jetzt viele Arbeiten nur einmal machen muss und die Ergebnisse stets weiterverwenden kann, zum Beispiel für das nächste geplante Projekt, wie den nochmals deutlich größeren Airlander 50. Besonders begeistert ist HAV von der Zuverlässigkeit und Reproduzierbarkeit der Simulationen und Tests. Alles ist nachvollziehbar und das Erreichte fungiert als zuverlässige Basis, auf der man eine Ebene höher weiterentwickeln kann. Die im Hybridluftschiff verbauten Systeme lassen sich vom virtuellen Cockpit aus ansteuern und so vieles von der zentralen Steuerstelle am Boden aus erledigen, was bei den Dimensionen des Airlander 10 etliche Laufwege und kostbare Zeit einspart.
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* Dr. Arne Brehmer ist Manager Aerospace, Jörn Haase ist Senior Expert Aerospace, beide bei der Vector Informatik GmbH.
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