Prozessorfehler: US-Behörde findet weiteres kritisches Problem bei Boeing 737 Max

Redakteur: Sebastian Gerstl

Die Neuzulassung der Airliner-Serie Boeing 737 MAX verzögert sich weiter. Nicht nur sei die Nachbesserung der MCAS-Software noch nicht ausreichend: In Simulator-Tests wurde eine weitere kritische Schwachstelle entdeckt. Derweil streben mehrere Piloten eine Sammelklage gegen Boeing an.

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Dutzende von geparkten Boeing drängen sich auf einem Parkplatz. Die Flug- und Startverbote für Maschinen des Typs 737 MAX dauern weiterhin an.
Dutzende von geparkten Boeing drängen sich auf einem Parkplatz. Die Flug- und Startverbote für Maschinen des Typs 737 MAX dauern weiterhin an.
(Bild: Elaine Thompson/AP/dpa)

Dem US-Luftfahrtkonzern Boeing droht eine weitere Verlängerung des Flugverbots für seine Flugzeuge der Baureihe 737 Max. Die US-Luftfahrtbehörde FAA hat nach eigenen Angaben bei den Unglücksjets ein mögliches Risiko gefunden, das zunächst behoben werden müsse. Boeing erklärte, dass die FAA beim Wiederzulassungsprozess der 737 Max zusätzliche Anforderungen stelle und das Unternehmen den Flugzeugtyp erst zur Zertifizierung anbieten werde, wenn diese erfüllt seien.

Die jüngste und modernste Flugzeug-Serie des Jumbojet-Herstellers Boeing ist erst seit 2016 auf dem Markt. Seit März diesen Jahres unterliegen alle Maschinen dieses Typs einem weltweiten Startverbot, nachdem zwei Flugzeuge – Lion Air Flug 610 und Ethiopian Airlines Flug 302 – abgestürzt waren.

Der Ausfall eines Mikroprozessors drückt die Nase aktiv nach unten

Die genaue Absturzursache beider Maschinen wird derzeit noch untersucht. Erste Berichte deuten allerdings darauf hin, dass ein Fehler im Flugverbesserungssystem MCAS, dass in der 737-MAX-Serie zum Einsatz kommt, ursächlich war. Nach den Abstürzen hatte Boeing versprochen, schnell ein Software-Update, dass das Ausmaß der automatischen Eingriffe des Flugaugmentationssystems einschränken und eine Ereigniskette, die zu Abstürzen wie in den beiden vorliegenden Fällen führen könnte, unterbinden soll.

Beim Absturz des Ethiopian Airlines Flug 302 kam schnell die Vermutung auf, dass das MCAS aufgrund eines defekten Lagesensors den Anstellwinkel der Maschine falsch erkannte und daraufhin die Nase Richtung Boden drückte. Wie der amerikanische Nachrichtensender CNN berichtet haben aber Piloten der US-Regierung nun eine zusätzliche potentielle Fehlerquelle im System entdeckt. In Simulator-Tests stellte sich demnach heraus, dass ein Ausfall eines Mikroprozessors ebenfalls dazu führen kann, dass das MCAS aktiv die Nase des Flugzeugs nach unten drückt. Demnach hätten die Testpiloten im Simulator nach einem potenziellen Ausfall des besagten Prozessors Schwierigkeiten, die Maschine innerhalb weniger Sekunden wieder aufzufangen. „Und wenn man die Kontrolle nicht innerhalb von Sekunden wiedererlangen kann, ist das ein unzumutbares Risiko,“ zitiert CNN eine mit den Tests vertraute anonyme Quelle.

Boeing gab in einer Stellungnahme nur an, dass die FAA „eine zusätzliche Anforderung identifiziert habe und daher das Unternehmen gebeten hat, diese in den Softwareänderungen, die das Unternehmen in den letzten acht Monaten entwickelt hat, zu adressieren“. Der Konzern kündigte an, dass „Boeing die 737 MAX erst dann zur Zertifizierung durch die FAA geben wird, wenn wir alle Anforderungen für die Zertifizierung der MAX und ihre sichere Rückkehr in den Betrieb erfüllt haben“. Wann dies der Fall sein wird ist unklar.

Hat Boeing die Softwareentwicklung fürs MCAS ausgelagert?

Auch die Entwicklung des MCAS selbst wird inzwischen massiv kritisiert: Wie der Nachrichtendienst Bloomberg meldet, wurde die zugehörige Software offenbar nicht bei Boeing selbst entwickelt. Angeblich soll der Hersteller die Entwicklung der Software massiv ausgelagert haben, um Kosten zu sparen.

Dem Bericht zufolge soll das System für die Boeing 737 MAX in einer Zeitspanne entwickelt worden sein, in der der US-Konzern erfahrenen Entwicklern kündigte und Zuliefern nahelegte, Kosten zu sparen. Infolgedessen sollen für die Softwareentwicklung größtenteils indische Firmen eingesetzt worden sein, deren Mitarbeiter weniger als neun Dollar pro Stunde verdienen. Der von diesen Studios angelieferte Code soll aber sehr fehleranfällig gewesen sein, was obendrauf zusätzliche umfangreiche interne Nacharbeiten zur Folge hatte.

Gegenüber Bloomberg gab Boeing zu, dass externe Entwickler eingesetzt wurden. Diese seien aber nicht direkt für jenes System verantwortlich gewesen, dass zum Absturz geführt haben soll. „Unser primärer Fokus ist es, dass unsere Produkte und Services sicher sind, die höchste Qualität aufweisen und Regeln befolgen“, sagte ein Sprecher des Konzerns. Demgegenüber hätten allerdings interne Entwickler von Boeing angegeben, dass es einen großen Druck gab. Änderungen, die zusätzliche Zeit und Kosten verursacht hätten, seien unerwünscht gewesen. Im Bloomberg-Artikel ist zudem von einem Boeing-Manager die Rede, der in einem Meeting meinte, dass der Konzern keine erfahrenen Ingenieure mehr brauche, weil die Produkte ohnehin schon vollentwickelt sind.

Die Branche stellt sich auf weitere Verzögerungen ein

In Branchenkreisen kommen die jüngsten Nachrichten allerdings nicht unerwartet, meldet der deutsche Nachrichtendienst dpa. „Wichtig ist der FAA-Testflug Mitte Juli“, erklärte ein Tuifly-Sprecher, der im Rahmen des Zulassungsprozesses auch weitere derartige Informationen nicht ausschließt. Der weltgrößte Reisekonzern Tui aus Hannover ist einer der Großkunden für die Jets.

Zuletzt war bereits vermutet worden, dass sich das Prüfverfahren noch Monate hinziehen könnte. Für Boeing und die betroffenen Airlines ist der Flugstopp eine starke finanzielle Belastung, wie bereits die Geschäftsberichte für das erste Quartal zeigten. Boeing selbst steht in der Kritik - auch wegen des Vorwurfs, die Entwicklung des neuen Flugzeugmodells wegen hohen Konkurrenzdrucks überstürzt zu haben.

Ob bei der ursprünglichen Zertifizierung der Boeing 737 Max alles mit rechten Dingen zuging, ist ebenfalls Gegenstand einer aktuell laufenden Untersuchung der US-Behörden. Im Zuge der Aufklärung der Abstürze am 29. Oktober 2018 in Indonesien und am 10. März in Äthiopien hat Boeing inzwischen eingeräumt ein, bereits rund ein Jahr vor dem ersten Unglück von einem Problem der 737 Max gewusst zu haben.

Sammelklage gegen Boeing gestartet

Ein Pilot hat mittlerweile das Unternehmen aufgrund der Unglücke und den danach verhängten Startverboten für die betroffenen Maschinen vom Typ 737 Max wegen finanzieller und weiterer Schäden verklagt. Der Rechtsstreit ist nach Angaben seiner Anwälte als Sammelklage angelegt, der sich mehr als 400 weitere Piloten anschließen könnten. Boeing äußerte sich auf Nachfrage zunächst nicht zu dem Rechtsstreit.

Der Kläger erhebt schwere Anschuldigungen. Boeing und der US-Luftfahrtbehörde FAA wird „eine beispiellose Vertuschung“ bekannter Fehler der 737 Max vorgeworfen. Die Abstürze und die folgenden Flugverbote seien deshalb „vorhersehbar“ gewesen. Der Pilot beklagt unter anderem „erhebliche Einkommenseinbußen“ sowie „schweres emotionales und mentales Leid“. Er sei gewissermaßen gezwungen gewesen, die Boeing-Maschinen zu fliegen und so nicht nur sich selbst, sondern auch Crew und Passagiere in Lebensgefahr zu bringen.

Das Flugaugmentationssystem MCAS

Die Boeing 737 Max ist die Neuauflage der seit den 1960er Jahren gebauten erfolgreichen 737-Reihe. Neu ist in dieser Serie unter anderem das sogenannte MCAS (maneuvering characteristics augmentation system). Dieses System, oft nicht ganz zutreffend nur als Software bezeichnet, dient zur automatischen Stabilisierung des Flugs, indem es automatisch auf das Höhenleitwerk des Flugzeugs zugreift. Da die 737 MAX allerdings größere Triebwerke hat, die im Vergleich zu früheren Serien weiter vorne montiert sind, besitzt die Maschine einen anderen Schubschwerpunkt, was die Nase der Maschine überproportional nach oben drückt. Das Augmentationssystem MCAS soll beim Erkennen bestimmter steiler Anstellwinkel eingreifen und diese aktiv korrigieren.

Durch das MCAS sollen Piloten in der Lage sein, ohne zusätzliches Training eine 737-Max-Maschine wie eine vertraute, ältere 737 fliegen zu können. In der Folge der Abstürze hatten mehrere Piloten sich über die unzureichende Dokumentation des MCAS beklagt: Das System greife stärker und früher in die Steuerung ein als es den Piloten bewusst sei, was häufig zu überraschenden und wenig vorhersehbaren Flugsituationen führte. (mit Material von dpa)

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